Dornenkuss by Bettina Belitz

Dornenkuss by Bettina Belitz

Autor:Bettina Belitz [Belitz, Bettina]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783839001615
Herausgeber: Script5
veröffentlicht: 2011-11-01T23:00:00+00:00


IN ALLER FREUNDSCHAFT

»Das ist eine Entführung!«

Ich hatte einige Minuten gewartet und meine Zunge gründlich mit Spucke befeuchtet, nachdem ich wach geworden war, um entsprechend entrüstet zu klingen. Das Ergebnis war zufriedenstellend, doch für Colin blieben meine Empfindungen und Gedanken nicht der Rede wert. Er saß am Steuer, wie ich es von früher schon kannte, schweigend, den Blick auf die Straße, eine Hand auf dem Lenkrad, die andere auf seinem Knie, nicht auf meinem.

»Wo bringst du mich hin? Was soll das? Ich möchte aussteigen. Kann ich bitte aussteigen?«

Ich wusste nicht, wo wir waren, aber es musste eine Gegend sein, in der man großzügig auf Straßenbeleuchtung, Leitplanken und Verkehrsschilder verzichtet hatte. Ich hatte den Eindruck, dass wir die Küste verlassen hatten und an Höhe gewannen; mehr war wegen der nächtlichen Dunkelheit nicht zu erkennen. Viel bedenklicher als das Gefühl, ins Nirgendwo zu fahren, waren jedoch die Haarnadelkurven, denen ich ausgesetzt wurde; Kurven, die so eng geschnitten waren, dass Colin ab und zu hupte, um entgegenkommende Fahrzeuge zu warnen, doch wir befanden uns weitgehend allein auf dieser schmalen, schlecht befestigten Straße. Ich hatte noch nie jemandem ins Auto gekotzt, aber dieses Mal bekam ich Angst, es würde geschehen. Wenn ich wenigstens etwas gesehen hätte, an dem sich meine Augen festhalten konnten! Die Kurven folgten zu rasch aufeinander, um sich einen Fixpunkt auszusuchen und den Gleichgewichtssinn zu entlasten.

»Colin, halte an, bitte. Mir ist übel«, vermeldete ich meine Not in einem erwachsenen, gefassten Ton, um ihm den Ernst der Lage bewusst zu machen. Vielleicht nahm er mich wahr, wenn ich mich vernünftig gab.

Nach zwei weiteren Kurven stoppte er den Wagen. Klackend sprang die Zentralverriegelung auf. Er hatte tatsächlich die Türen versperrt, während wir gefahren waren. Damit Angelo nicht eindringen konnte, wenn er sich ans Auto hängte, oder damit ich nicht fliehen konnte?

»In Ordnung, gehen wir ein paar Schritte.«

Er holte mich an meiner Tür ab und ließ mir Zeit, tief durchzuatmen, bevor ich auf wackeligen Knien neben ihm hertapste. Jetzt erst bemerkte ich, dass wir am Rande eines Dorfes – oder war es ein Städtchen? – geparkt hatten. Immerhin, es gab noch Zivilisation hier oben. Doch das Dorf wirkte vergessen und verlassen, obwohl ich ein paar schäbige Cafés und Läden sah und in einigen Häusern noch Licht brannte. Ein von Räude zerfressener, dürrer Hund kreuzte unseren Weg und verschwand in einer steilen Gasse. Auch hier hätte jedes einzelne Gebäude eine Grundsanierung vertragen können. Der Ort sah noch heruntergekommener aus als Calopezzati.

»Sieh zu, was passiert«, forderte Colin mich auf, als wir der Piazza entgegenschritten. Ich war noch zu sehr mit meinem Magen beschäftigt, um zu fragen, was das alles eigentlich sollte. So gehorchte ich stumm, denn ich war für jede Ablenkung dankbar.

Man musste keine allzu feine Beobachtungsgabe haben, damit man verstand, was Colin meinte. Die wenigen Menschen, die auf klapprigen Stühlen vor ihren Häusern saßen und die Nachtluft genossen, zogen sich zurück, nachdem wir an ihnen vorbeigelaufen waren. Lichter erloschen, Läden schlossen sich, Gäste brachen auf, Kellner schafften die Tische zur Seite – nicht alles gleichzeitig, nein,



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